Es war kein schönes Gefühl, diese Trockenheit in meinem Mund, die mich endgültig aus meinem unruhigen Schlaf riss. Kurz orientieren. Wo, zum Teufel, bin ich hier eigentlich? Ach ja, im Krankenhaus.
Ich tastete meinen Bauch ab. Meine Finger glitten über den flauschigen Verband, der die Wunde verdeckte, die aus der Entfernung meines Blinddarms resultierte. Das war nun drei Tage her. Die Schmerzen hielten sich in Grenzen, aber dieser Durst – meine Blicke huschten über den Nachttisch seitlich meines Krankenbettes. Neben meinem Smartphone und einer Rotzfahne stand dort die grüne Wasserflasche, die ich wenige Stunden zuvor leergetrunken hatte. Brand im Krankenhaus? Wofür haben die mir eigentlich den Blinddarm entfernt, wenn die mich jetzt hier verdursten liessen?
Zugegeben, bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nichts zu beanstanden – in den Tagen nach der OP wurde ich von den Pflegern und Krankenschwestern wie die Prinzessin auf der Erbse gebettet und gepflegt. Aber wo waren die bloß alle? Normalerweise steckte doch alle 2 Stunden eine Schwester ihren runden Kopf durch die Tür, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei. Gedanklich wägte ich meine Optionen ab. Liegenbleiben, bis jemand auf die Idee kommt, hier mal nach dem Rechten zu sehen, oder sich selbstständig auf die Suche nach der Oase begeben? Ich überlegte drei Sekunden – selbst ist der Mann. Fluchend richtete ich mich in meinem Bett auf und setzte die Beine auf den Boden. Vorsichtig, alter Junge, murmelte ich mir selber zu. Ich glitt in meine schäbigen Hausschuhe, die akkurat neben meinem Bett platziert waren, bevor ich mich aufstellte. Sehr gut – der Kreislauf machte mit. Ein paar Ehrenrunden über den Gang hatte ich gestern schon absolviert, warum nicht auch heute? Vorsichtig und wankend schleppte ich mich zur Tür. Mein Schädel brummte, während meine Zunge sich wie ein Stück Dörrfleisch anfühlte.
Ich schaffte es bis zur Tür, bis auf den Gang – Totenstille auf dem Flur. Wo, zum Geier, waren die alle? Eine Sekunde ertappte ich mich bei der Vorstellung, dass ich der letzte Mensch auf Erden sein könnte. Der letzte, durstige Mensch, der in diesem verdammten Krankenhaus durch die Gegend torkelte. Ich visierte einen Treppenaufgang am Ende des Korridors an, erreichte es und stieg neugierig hinauf. Ich erblickte den Zugang zu einem Raum, der durch Milchglas von neugierigen Blicken abgeschirmt wurde. Ich erreichte ihn, ohne zu vertrocknen. Durch die hölzerne Tür drang aufgeregtes Stimmengewirr, scheinbar gab es viel zu besprechen. Mir egal. Ich klopfte, wartete aber keine Antwort ab und drückte die Klinke herunter. Die verblüfften Gesichter staunten mich nicht schlecht an, als ich das spärlich eingerichtete Zimmer ungefragt betrat. Zu meinem Erstaunen saßen hier weniger Pfleger und Schwestern geschweige denn Ärzte, sondern offenbar eher die Chefs aus der Verwaltung. Gerade sprach ein Mann, den ich nicht einordnen konnte. Es stellte sich heraus, dass es sich um den hiesigen Krankenhaustechniker handelte, der gerade ein flammendes Plädoyer für hinreichende Brandschutzvorkehrungen hielt.
„Und darum sage ich Ihnen, dass wir die derzeitigen Mittel mal dringend überdenken sollten! Wenn hier der Baum brennt, sitzen wir alle im gleichen Boot“, bellte Klaus Meier, der Krankenhaustechniker, bevor er meinetwegen innehielt. „Und Sie sind?“, fragte er mich mit entnervter Stimme. „Für Sie Jan, ich bin Patient“, antwortete ich bemüht fröhlich. „Haben Sie Wasser für mich? Ich habe einen saumäßigen Brand.“ Becker lachte triumphierend auf: „Sehen Sie, verehrte Anwesende? Da haben wir schon den ersten Feueralarm!“
Während Schwester Linda, die mir offenbar zuletzt gefolgt war, mich erreichte und mir gleich vor Ort ein sprudelndes Glas Wasser einschüttete, lauschte ich einigen Satzfetzen des Meetings. Meier sprach sich für eine Aufrüstung von Sicherheitsmaßnahmen sowie spezifische Schulungen für das Personal bei der Krankenhaustechnik aus. Bei zwei anwesenden Medizinern rief dies wenig Begeisterung hervor. Sie ächzten nur, dass eine Renovierung des Sicherheitskonzeptes enorme Gelder des Budgets verschlingen würden. Wer soll das alles bezahlen? Mich beschlich das Gefühl, dass dieses Gespräch nicht zum ersten Mal geführt wurde. „Sie sollen doch noch nicht so viel rumlaufen, Herr Becker. Kommen Sie, ich bringe Sie auf Ihr Zimmer“, mahnte Schwester Linda. Dort angekommen, stellte ich fest, dass mich der spontane Ausflug viele Reserven gekostet hatte. Erschöpft, aber gestillt, schlief ich ein.
Als ich die Augen wieder aufschlug, blickte ich in das Gesicht von Dr. Drews. „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir Sie nochmal unters Messer legen müssen. Bei der Entfernung Ihres Blinddarms haben wir das große Muttermal an Ihrem Bauch verletzt. Um eine bösartige Veränderung des Gewebes auszuschließen, müssen wir es prophylaktisch entfernen.“ Ich stöhnte und willigte ein. „Wenn es nur das ist.“ Kurz darauf befand ich mich auf einem metallenen OP-Tisch, der mich aus unerfindlichen Gründen an den Film SAW erinnerte. Ich hatte mich schon mal wohler in meiner Haut gefühlt. Die örtliche Betäubung wirkte schnell, etwa 30 Sekunden nach der Injektion fühlte sich die betroffene Region taub und dumpf an. „Keine Sorge. Der Löffel zum Ausschaben ist zwar enorm heiß, aber davon werden Sie nichts spüren“, erheiterte mich der zuständige Dermatologe. Er begab sich an die Arbeit – als der Geruch von verbranntem Fleisch mir in die Nase stieg, schloß ich meine Augen.
Ich öffnete sie erst wieder, als ich bemerkte, dass der Arzt hektisch an meiner Seite herumfuchtelte. Ich schaute genauer hin. Irgendwie hatte er es fertig gebracht, sich den weißen Kittel in Brand zu stecken. Er zeterte und wurde hysterisch, da die zunächst kleine Flamme stetig wuchs. „Ziehen Sie das Ding schnell aus“, rief ich ihm zu. Meine Worte schienen aber nicht mehr zu ihm durchzudringen, stattdessen klopfte er wie wild auf seine Dienstkleidung. Das Tohuwabohu erregte Aufmerksamkeit im ganzen Flügel, mehrere Pfleger, Schwestern und Ärzte stürmten in unser Behandlungszimmer. „Der Mann hat Brand, tun Sie doch was“, riet ich ihnen. Ich selbst betrachtete das Spektakel von meiner Liege, unfähig, mich entscheidend in Szene zu setzen. „Gibt es denn hier keine Sprinkleranlagen“, brüllte ein Arzt durch das Chaos, während zwei Pfleger den Dermatologen aus seinem Kittel befreiten, der mittlerweile recht ordentlich loderte. Nein, Sprinkleranlagen gab es hier offenbar nicht. Unwillkürlich musste ich an den Krankenhaustechniker denken, der, wäre er tot, gewiss in seinem Grab rotieren würde. Eine besonders beherzte Schwester entsann sich, dass auf dem Gang ein alter Feuerlöscher hing. Sie stürmte mit dem Utensil auf den Arzt und seinen Kittel zu, drückte den Abzug und – es geschah nichts. Als ob der Löscher sie verspotten wollte, gab er nur ein stotterndes Fiepen von sich. Inmitten des Getümmels schien ich der einzige zu sein, der einen klaren Blick auf die Situation behielt – an der Garderobe des Raums entdeckte ich eine massive Decke. So eine hatte ich schon mal irgendwo gesehen. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen – es handelte sich um eine Löschdecke!
„Nehmen Sie doch die da“, rief ich der Schwester zu. Sie stockte kurz und sah mich an, bevor sie schaltete. Binnen von Sekunden griff sie die Decke, um sie über den brennenden Kittel des aufgebrachten Arztes zu werfen. Nach wenigen Sekunden war der Spuk vorbei, die Flammen gelöscht. Nach einer kurzen Schweigepause brachen die Anwesenden in erleichtertes Gelächter aus. „Unglaublich, ab heute sind sie eine wahre Heldin des Alltags“, erkannte ein Oberarzt an, der sich zuvor dezent im Hintergrund gehalten hatte. Die Schwester errötete. „Vielen Dank für die Blumen, aber wenn die Decke dort nicht gehangen hätte, wäre ich auch machtlos gewesen“, konstatierte sie. Nach dem Vorfall beruhigte sich die Lage im Krankenhaus, meine letzten stationären Tage verbrachte ich erholsam. Vor meiner Entlassung bedankte sich der Dermatologe, der mein Muttermal entfernt hatte, persönlich bei mir. „Ohne Ihren Überblick hätte das auch ins Auge gehen können. Sie haben, im wahrsten Sinne des Wortes, meine Haut gerettet.“ Die Situation war mir etwas unangenehm, ich hatte letztendlich nur auf meiner Behandlungsliege ausgeharrt. Ich winkte ab.
Am Tag meiner Entlassung war ich guten Mutes, als ich durch die Korridore zum Ausgang des riesigen Gebäudes ging. Ich hatte die Eingangshalle fast passiert, als ich eine Stimme hinter mir vernahm. Sie gehörte zu Klaus Meier, dem Krankenhaustechniker. „Na bitte, unser heimlicher Held darf wieder in die eigenen vier Wände. Ich hoffe, sie haben dort genug Wasser, um jedem Brand und Durst vorzubeugen“, lachte er mich an. Ich schmunzelte und sagte ihm, dass er diesbezüglich keine Sorgen haben müsste. „Mit Getränken wird in meinem Haushalt nicht gegeizt, so viel kann ich Ihnen versprechen.“ „Das freut mich zu hören. Apropos Geiz – ich hoffe, dass meine lieben Kollegen meine Worte nach dem Vorfall nun ernster nehmen. Eine ausgiebige Investition in Sicherheitsmaßnahmen macht sich früher oder später bezahlt.“ Ich gab ihm recht. „Immerhin hing die Löschdecke in dem Raum herum. Es ist, als ob irgendeine gute Seele eine Vorahnung hatte“, sagte ich zu ihm.
Klaus Meier nickte und grinste wissend. „Ja, irgendjemand hatte da wohl eine Vorahnung. Vielleicht war es sogar ein Mann von Fach, der mit den bescheidensten Mitteln, die hier zur Verfügung stehen, seiner Arbeit nachgeht“, gab er mir augenzwinkernd zu verstehen. Der Wink mit dem Zaunpfahl traf mich in der Magengegend. Mir wurde klar: Der eigentliche Held des Vorfalls war Meier, der in vielen Räumlichkeiten Löschdecken ausgehangen hatte. Ich wünschte ihm alles Gute, bevor ich den sonnigen Innenhof des Krankenhauses betrat.